Andere Internetze

Wie würde das Netz aussehen, wenn es ganz anders wäre? Das ist nicht so absurd, wie es klingt – und wie das Projekt Xanadu vor Augen führt: Bei diesem Konzept hätte es statt Hyper­links Trans­klusion gegeben, mit der digitale Inhalte richtig­ge­hend verwo­ben worden wären.

Neulich haben wir im Büro darüber gesprochen, wann uns aufgegangen ist, dass das Internet keine Neuerung wie irgendeine ist, sondern das, was man auf Neudeutsch einen «Gamechanger» nennt. (Altdeutsch würde man wohl von Bahnbrecher sprechen.) Es kam heraus, dass uns allen nicht beim ersten Kontakt aufgegangen war. Ich fand das Internet damals spannend, und ich habe mich durchs Yahoo-Verzeichnis geklickt, Erfahrungen mit dem Chatten gesammelt und Mails durch die Gegend geschickt. (Auch wenn ich nicht mehr weiss, wie man damals Leute aufgespürt hat, denen man überhaupt hätte ein Mail schicken können.)

Wenn das Internet im 19. Jahrhundert erfunden worden wäre. (Bild: Au Cyber Café, after Jean Béraud, Mike Licht/Flickr.com, CC BY 2.0)

Dieser Gedanke ist mir noch ein paar Mal durch den Kopf gekullert. Und irgendwann habe ich mir die Frage gestellt: Ist es eigentlich zwingend, dass das Internet herausgekommen ist, wie wir es heute kennen? Das heisst: Offen, aber in seiner Offenheit bedroht?

Die Antwort ist natürlich: Nein, das ist überhaupt nicht zwingend. Aus unserer Sicht mag es so aussehen, als ob die Zeit und die Entwicklung aller Dinge unvermeidlich auf den Punkt zugelaufen ist, an dem wir heute stehen. Aber nichts müsste so sein, wie es ist. Das zeigt auf etwas banale Art und Weise diese Bildersammlung hier: So hätten Google, Twitter, Facebook, Spotify, Instagram und Skype ausgesehen, wenn sie in den 1980er-Jahren erfunden worden wären.

Inhalte aus verschiedenen Quellen zu «lebenden» Dokumenten verweben

Es gibt noch etwas differenzierte Gedankenspiele in diese Richtung. Bei Wikipedia findet man den Beitrag über Projekt Xanadu – der eigentlich mehr ist als ein Gedankenspiel, nämlich ein echtes Projekt, das für die damalige Zeit viel zu komplex war – und vermutlich auch heute nicht in vollem Umfang realisierbar wäre. Die Idee ist, dass man nicht mit simplen Links operiert, um auf eine andere Quelle verweist. Stattdessen gibt es die Transklusion: Man blendet den Inhalt des fremden Dokuments bzw. einen Ausschnitt in sein Dokument ein.

Der Erfinder, Ted Nelson wollte nicht einfach nur das Papier auf elektronische Weise imitieren, so wie Adobe und Microsoft das getan haben. Er spricht vom «Prison of the Paper», dem Gefängnis des Papiers. Seine Idee hätte das Dokument neu erfunden und das Schreiben fundamental verändert, sagt er.

Und ich bin geneigt, ihm zu glauben. Ich finde diese Gedankengänge faszinierend. Es trägt dem Umstand Rechnung, dass in der vernetzten Welt Dokumente nicht für sich stehen müssen, sondern Bausteine sein können, die zu grösseren Einheiten zusammengebaut werden. Es gibt allerdings einige Dinge, die dieser Idee entgegenstehen, nicht nur die bereits erwähnte technische Komplexität. Auch die Urheberrechtstrolle würden es nicht gerne sehen, wenn ihr Dokument vertransklusioniert wird. (Obwohl Wikipedia die Möglichkeit einer Vergütung erwähnt.)

Die Eitelkeit der Autoren steht der Idee im Weg

Und ich denke, auch die menschliche Eitelkeit käme dieser Vision in die Quere. Autoren streben die Herrschaft übers ganze Werk an und wollen nicht bloss ein Abschnittlein beitragen. Man erinnere sich an die Hub-Idee bei Windows Phone. Da hatte Microsoft die Idee, im Bilder-Hub alle Fotos zusammenfliessen zu lassen, statt sie in einzelnen Apps quasi in Silos abzufüllen. Daraus ist nichts geworden, weil Instagram oder Flickr sich niemals damit begnügt hätten, bloss Teil eines Hubs zu sein.

Ich bin auf meiner Suche nach Antworten auf die Frage, wie das Netz auch aussehen könnte, dem Beitrag 8 (Completely Plausible) Alternate Histories of the Internet begegnet: Das Internet hätte ein akademischer Ort ohne kommerzielle Interessen bleiben können. Doch dann wäre es kaum zum Bahnbrecher avanciert.

Auch das Gegenteil wird durchexerziert: Das Internet steht nur den grossen Unternehmen offen, weil nur sie sich die Nutzung leisten können. Das wäre passiert, wenn einer das WWW im Jahr 1994 patentiert und kopiergeschützt hätte.

Das von den Behörden zensurierte Web

Die anderen Varianten umfassen ein Netz, das von der Kommunikationsbehörde FCC zensuriert wird. Das Netz könnte auch die Musikindustrie gerettet haben, weil Kleinbetragzahlungen von Anfang an eingebaut waren. Es gibt keine Kinder im Netz, weil der Kongress ihnen den Zugang verboten hat. Es wurde niemals mobil. Und es ist nur für Gutbetuchte und VIPs, weil die Netzneutralität nicht Fuss gefasst hat.

Auch keine schöne Vorstellung. Das Netz ist, obwohl ohne Transklusion, so wie es ist, gar kein so schlechter Wurf. Kämpfen wir dafür, dass es so bleibt.

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