Der junge und der alte Nerd

«Der Name der Rose» von Um­berto Eco scheint kein zwin­gender Kan­di­dat für meine Nerd­liter­tatur-Rubrik zu sein. Doch das täuscht: Das Buch führt vor Augen, womit wir Nerds uns be­schäf­tigt haben, bevor es Com­pu­ter gab.

Da in jüngster Vergangenheit Umberto Eco von uns gegangen ist, habe ich endlich einen neuen Anlauf genommen, und mir Der Name der Rose zu Gemüte geführt. Ich hatte schon einmal einen erfolglosen Anlauf genommen. Denn wie das so ist mit solchen Monumentalwerken: Man muss den Einstieg richtig erwischen, sonst macht es keinen Spass.

Siehe Titel. (Screenshot aus der Verfilmung von 1986)

Meinem zweiten Versuch habe ich mir die Hörbuchfassung vorgenommen, die vom hochgeschätzten Gert Heidenreich gelesen wird, mit dem ich für Stadtfilter mal ein Gespräch führen konnte. Und was soll ich sagen: Es ist ein grossartiges Werk!

… das hier adäquat zu besprechen, annähernd unmöglich ist. Darum bloss einige Gedanken – vorwiegend meine Überlegungen, warum das Buch IMHO in die Rubrik Nerd-Literatur hineinpasst.

Die Geheimschrift dechiffrieren

Aus zwei Gründen, vor allem. Zum einen müssen William und Adson eine Geheimschrift und damit eine Verschlüsselung knacken:

Als ich fertig war, nahm William meine Tafel, hielt sie hoch und musterte die Kopie, leider ohne seine Augengläser. «Zweifellos eine Geheimschrift, die wir entziffern müssen», sagte er. «Die Zeichen sind schlecht gemalt, und vielleicht hast du sie in deiner Kopie noch mehr verzerrt, aber es handelt sich fraglos um ein Alphabet aus Tierkreiszeichen. Sie hier, in der ersten Zeile haben wir» – er hielt die Tafel mit gestreckten Armen weit von sich und kniff die Augen zusammen – «Schütze, Sonne, Merkur, Skorpion…»
«Und was bedeuten sie?»
«Nun, wenn Venatius naiv gewesen wäre, hätte er das gewöhnlichste Tierkreiszeichen-Alphabet benutzt: A gleich Sonne, B gleich Jupiter und so fort… Die erste Zeile hiesse dann also… schreib das mal mit… RAIQASVL…» Er unterbrach sich. »Nein, das ergibt keinen Sinn, Venantius war nicht naiv. Er hat das Alphabet in eine andere Ordnung gebracht. Ich muss sie herausbekommen.
«Ja ist das denn möglich?» fragte ich voller Bewunderung.
«Gewiss, wenn man ein wenig von der arabischen Wissenschaft weiss. Die besten Traktate über Kryptografie sind Werke ungläubiger Gelehrter, ich hatte in Oxford die Möglichkeit, mir einige davon vorlesen zu lassen. Roger Bacon sagte zu Recht, dass der Erwerb des Wissens mit dem Erlernen der Sprachen beginnt. Abu Bakr Ahmad ben Ali ben Washiyya an-Nabati schrieb vor Jahrhunderten ein Buch der unbezähmbaren Begierde des Frommen, die Rätsel der alten Schriften zu lösen. Darin finden sich viele Regeln zur Bildung und zur Entzifferung von Geheimschriften, die man zu magischen Zwecken benutzen kann, aber auch zur Verschlüsselung der Korrespondenz zwischen zwei Armeen oder zwischen einem König und seinen Botschaftern. Ich habe auch andere arabische Bücher gelesen, in denen sehr sinnreiche Kunstgriffe aufgeführt werden. Du kannst zum Beispiel einen Buchstaben durch einen anderen ersetzen, du kannst ein Wort von hinten nach vorn schreiben, du kannst die Buchstaben des Alphabets in eine verkehrte Reihenfolge bringen, aber dabei immer einen überspringen und dann das Ganze nochmals von vorn, du kannst auch, wie hier in diesem Fall, die Buchstaben durch Tierkreiszeichen ersetzen, aber dabei den verschlüsselten Buchstaben ihren Zahlenwert zuschreiben und dann diese Zahlen nach einem anderen Alphabet in andere Buchstaben verwandeln…»
«Und welches dieser Systeme wird Venantius benutzt haben?»
«Wir müssen sie alle durchprobieren und noch andere dazu. Aber die erste Regel beim Entziffern einer Geheimbotschaft ist, zu raten, was sie uns sagen will.»
«Ja aber dann braucht man sie doch gar nicht mehr zu entziffern», lachte ich.
«Nicht in diesem Sinne. Man kann Hypothesen über die ersten Worte der Botschaft aufstellen und dann prüfen, ob die daraus ableitbare Regel für den ganzen übrigen Rest der Handschrift gilt. Zum Beispiel kann man vermuten, dass Venantius sich hier den Schlüssel zum Finis Africae notiert hat. Nehmen wir einmal an, dass die Botschaft davon handelt… Ja, da fällt mir ein bestimmter Rhythmus auf… Sieh dir doch mal die ersten drei Zeichengruppen an, nicht die Zeichen selbst, nur ihre Anzahl OOOOOOOO OOOOO OOOOOOO. Nun versuch mal, jede Gruppe in Silben von mindestens zwei Zeichen aufzuteilen, und sag laut, was dabei herauskommt: tata-tam ta-ta ta-ta-ta… Kommt dir dabei nichts in den Sinn?»
«Mir schon: Secretum finis Africae… Aber wenn es so wäre, müssten im dritten Wort der erste und der sechste Buchstabe gleich sein, und tatsächlich sind sie es, schau hier, zweimal das Symbol der Erde. Und der erste Buchstabe des ersten Wortes, das S, müsste derselbe sein wie der letzte des zweiten Wortes, und wirklich steht hier zweimal das Zeichen des Schützen. Vielleicht sind wir auf dem richtigen Weg. Es kann sich natürlich auch um eine Reihe schierer Zufälle handeln. Man bräuchte eine Bestätigung…» (Siehe Google Books)

Klar, diese Geheimschrift ist aus heutiger Sicht keine Herausforderung. Man würde sie allein mit statistischen Methoden innert Sekunden knacken, weil man anhand der Buchstabenhäufigkeit herausfindet, welcher Buchstabe durch welches Symbol repräsentiert wird. Aber dem Lesevergnügen schadet das nicht – man sieht dem kleinen und dem grossen Nerd (die natürlich an Sherlock Holmes und Watson angelehnt sind) gern bei der Arbeit zu.

Bisweilen landet einer auf dem Scheiterhaufen

Zum Zweiten ist die Informationsdichte und Detailfülle so beachtlich, dass das Buch eine Zeitreise darstellt, selbst wenn niemand durch die Jahrhunderte springt. Eco als Bibliotheksnerd hat sich so viel über das 14. Jahrhundert angelesen und vermittelt sein Wissen so lebendig und fantasiereich, dass man sich das Leben damals sehr gut vorstellen kann. Auch der Hintergrundkonflikt zwischen der Kirche und den weltlichen Machthabern über die Vormachtstellung in Europa tritt fassbar zutage. Und man versteht, wie die katholische Kirche mit dem Kampfbegriff der Häresie ihren Anspruch der Deutungshoheit durchsetzt – auch wenn halt ab und zu einer auf dem Scheiterhaufen landet.

Und natürlich: Auch der Unterschied zu heute wird greifbar: Damals war Wissen nur durch manuelles Abschreiben zu vervielfältigen. Es konnte hervorragend monopolisiert und zum Zweck des Distinktionsgewinns eingesetzt werden. Das ist Grund genug, sich wieder einmal über Google und Dinge wie Google Books zu freuen.

Schliesslich kann man sich exzellent über die Religion(en) ärgern – die Anmassung, die Arroganz und die Blindheit. Spannend fand ich, das Frauenbild der Klosterbrüder vor Augen geführt zu bekommen. Das ist nämlich kein Deut besser als bei den Religionen, die wir heute wegen ihres rückständigen Frauenbilds kritisieren.

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