Den kalten Krieg zum Verschwinden gebracht

«Lightning» von Dean Koontz ist eine untypische Zeitreise-Geschichte, in der sich die Heldin Laura von einem Schutzengel mit deutschem Akzent beschützen lassen muss.

In meiner kleinen Reihe der Nerd-Literatur steht heute wieder einmal¹ ein Zeitreise-Abenteuer an. Es geht um Lightning von Dean Koontz (hier der Affiliate-Link zu Amazon). Die deutsche Fassung heisst Der Schutzengel und ist bei Amazon hier zu haben.

Wo zeitgereist wird, da blitzt und donnert es.

Laura Shane ist die Hauptfigur der Geschichte. Schon bei ihrer Geburt ist sie in grosser Gefahr: Der Arzt, der sie entbinden sollte, ist nämlich Alkoholiker. Er hat schon ziemlich getankt, als ihn der Notruf aus der Klinik erreicht. Er wird wegen Komplikationen aufgeboten. Doch ein geheimnisvoller Fremder tritt auf den Plan und hält den volltrunkenen Arzt davon ab, dem Anruf Folge zu leisten. Er bringt ihn dazu, die Aufgabe an einen nüchternen Kollegen zu übertragen, worauf Laura ohne Schaden zu nehmen auf die Welt kommen kann. Ihre Mutter kann nicht gerettet werden.

Ein blonder Schutzengel mit deutschen Akzent

Nun begleiten wir Laura durch ihre Kindheit. Ihr Vater kümmert sich rührend um sie. Doch ihre Kindheit bleibt nicht lange so behütet. Zwar überleben Laura und ihr Vater, wiederum dank der Intervention des geheimnisvollen Fremden, den brutalen Überfall eines Drogensüchtigen. Doch dann stirbt der Vater an einem Herzinfarkt. Laura kommt ins Waisenhaus, wo der pädophile Hausmeister ihr nachstellt. Der geheimnisvolle Fremde, Lauras Schutzengel, wendet die Übergriffe im Waisenhaus ab. Doch als Laura zu einer Pflegefamilie kommt, bleibt er weg – was ihrer Pflegemutter das Leben kostet.

Laura lernt im Waisenhaus die Zwillinge Thelma und Ruth kennen, die bald ihre besten Freundinnen und eine Art Ersatzschwestern werden. Doch auch das Freundschaftsglück wird überschattet. Bei einem Brand im Heim stirbt Ruth.

Auch diesen Schicksalsschlag steckt Laura heran. Sie wächst heran, verliebt sich, wird eine erfolgreiche Schriftstellerin, bekommt einen Sohn – und macht wieder die Begegnung mit dem geheimnisvollen Fremden. Er rettet die Familie bei einem Ausflug in die Berge davor, von einem Lastwagen, dessen Fahrer die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren hat. Nach dieser glücklichen Fügung folgt das Unglück: Bewaffnete Männer greifen Laura, ihren Mann und Chris, den Sohn an. Ihr Mann wird von den Kugeln getötet.

… und nach diesem langen Vorlauf setzt an dieser Stelle die eigentliche Geschichte ein. Von der werde ich nicht zu viel verraten. Darum das Fazit:

Koontz schreibt eine untypische Zeitreise-Geschichte. Die Hauptfigur, Laura, ist nicht selbst Zeitreisende, sondern bekommt es mit einem Zeitreisenden zu tun². Das ist nicht verkehrt, aber es beraubt die Geschichte eines zentralen Elements – nämlich der Spannung, in eine andere Epoche verschlagen worden zu sein, wo sich die Figur erst einmal zurechtfinden muss. Ausserdem bietet es dem Autor eine Gelegenheit, bei der Beschreibung dieser fremden Epoche zur Höchstform aufzulaufen, so wie King das bei 11/22/63 (Amazon; Der Anschlag) tut.

Der zeitliche Clash of cultures

Wie King die 1950er-Jahre heraufbeschwört, ist toll. Der zeitliche «Clash of cultures» ist die grosse Stärke einer Zeitreise-Geschichte, die King souverän ausspielt. Sein Buch lässt Raum für Nostalgie, erlaubt es dem Autor, die Verklärung auch immer wieder zu durchbrechen. Koontz’ Geschichte spielt zum grössten Teil in Lauras Gegenwart und die alternativen Zeitstränge nehmen nur einen kleinen Raum ein. Koontz verwendet einen Kniff, um seinen Plot in den Griff zu kriegen: Bei ihm sind Zeitreisen in die Vergangenheit nicht möglich, weil die «Natur so Paradoxa verhindert». Ist etwas geschehen, kann ein Zeitreisender es nicht mehr verändern. Was im Übrigen auch das Grossvaterparadoxon effektiv verhindert.

Das klingt nach einer sinnvollen Einschränkung, die trotz allem viel Spielraum lässt. Die Zeitreisenden können schliesslich die Zukunft nach ihrem Gusto beeinflussen, was sie auch tun. Sie geben Laura und ihren Sohn den Manipulationen der Zeitlinie preis, und wie bei King gibt es im Gefüge des Universums immer wieder die Tendenz, die menschlichen Eingriffe zu bereinigen und den natürlichen Lauf der Dinge wieder herzustellen. Das bedeutet im Fall von Laura, dass ihr Sohn Chris zur Disposition steht – und das ist natürlich ein starkes, Emotionen und Spannung versprechendes Motiv.

Trotzdem überzeugt mich diese Einschränkung nicht so richtig. Sie führt zu Einschränkungen in der Geschichte, die künstlich bzw. willkürlich wirken. Ausserdem sind die unauflösbaren Paradoxa der faszinierende Aspekt der Zeitreise-Abenteuer: Wie fühlt sich das an, wenn man sich selbst den Teppich unter den Füssen wegzieht? Von diesem metaphysischen Gruseln lebt das Genre.

Das Paradoxon gehört dazu!

Für eine Zeitreise-Story zu konventionell, aber trotzdem empfehlenswert. Sauer aufgestossen ist mir, dass Koontz ein Waffennarr ist und nichts für Pazifisten übrig hat. Amüsant fand ich den IBM-PC, der im Buch als wahre Wundermaschine dargestellt wird – was mir die Möglichkeit gibt, meinerseits eine kleine Zeitreise ins Erscheinungsjahr des Buches zu machen. Damals, 1988, hatte auch ich meine erste Begegnung mit dem IBM-PC, und den als Wundermaschine erlebt.

Spielt eine Nebenrolle.

Kurz und gut: Geschichten mit Nazis sind gefährdet, ins Lächerliche oder Ärgerliche abzugleiten, und Koontz’ Story ist keine Ausnahme. Er umschifft die Klippen und erzählt eine interessante, leicht zu konsumierende Geschichte, die zwar nicht von atemloser Spannung geprägt ist, die ich aber trotz ihrer Mängel gerne gelesen habe. Während Lauras Zeit im Waisenhaus gibt es rührende und ergreifende Momente, die einen Anteil nehmen lassen – und dafür sorgen, dass man den Moment ihres Todes³ als emotionalen Tiefpunkt erlebt. Verpasst hat Koontz die Gelegenheit, die Rolle des Sohnes auszubauen und den Plot auf die nächste Generation auszudehnen. Das wäre bei einer Story, die so viel Anlauf nimmt und bei der die Zeit eine zentrale Rolle einnimmt, nicht verkehrt gewesen…

Die Hörbuchfassung wird von Christopher Lane gelesen, der einen guten Job abliefert. Seine Hitler-Imitation ist nicht Bruno-Ganz-Liga, aber akzeptabel. Zu kritisieren ist sein Deutsch. In der Geschichte kommen ab und zu deutsche Begriffe und diverse deutsche Charaktere vor. Da hört man heraus, dass Lane kein Deutsch kann. Wenn eine Figur namens Hubach als «Hubatsch» ausgesprochen wird, dann schmälert das die Glaubwürdigkeit. Auch hier gilt wieder: Es wäre nicht zu viel verlangt, einen Sprecher zu organisieren, der wenigstens ein, zwei Semester der Fremdsprache studiert hat, die in der Geschichte eine zentrale Rolle spielt. Oder man könnte wenigstens jemanden anstellen, der dem Sprecher die deutschen Worte vorsagt.

Nun wäre diese Rezension eigentlich fertig. Wäre da nicht noch ein wichtiger Punkt. Nämlich die auffälligen Parallelen in der Geschichte des Herrn Koontz zu dem Werk von Stephen King. Wikipedia bekräftigt diese Parallelen, indem die Unterschiede herausgestrichen werden:

Koontz wichtigster Grundsatz: während der Grafiker das Buch so gestalten muss, dass es der Käufer in die Hand nimmt, ist es seine Aufgabe als Autor, den Leser gleich mit dem allerersten Satz so an das Buch zu fesseln, dass er es nicht mehr weglegen will. Das steht ganz im Gegensatz zum Schreibstil von Stephen King, der in seinen Büchern die Spannung ganz langsam und subtil aufbaut und viel Zeit dafür aufwendet, den Charakter eines Menschen eingehend zu beleuchten.

King oder Koontz?

Abgesehen vom ersten Satz nehmen sich beide Autoren sehr viel Zeit zur Entwicklung der Geschichte. Das ganze Vorgeplänkel zu Lauras Kindheit und Jugend habe ich wie erwähnt gern gelesen, aber es wäre auch viel kürzer gegangen. Es dient, genau wie bei King dazu, dass der Leser sich in der Welt des Autors einnisten kann. King bringt die Dinge noch etwas präziser auf den Punkt, finde ich. Er ist bei den Figurenzeichnungen schärfer und bringt die Sache mit der Zeitreise in Der Anschlag prägnanter auf den Punkt. (Koontz hat sein Buch allerdings 1988 geschrieben, 23 Jahre früher als King sein Rettet-Kennedy-Epos).

Man könnte nun ewig streiten, welcher Autor besser ist. Beide sind Workaholics, dem Horror und anverwandten Themen nicht abgeneigt, und beide sind erfolgreich (obwohl ich, bis vor kurzem Koontz ehrlich gesagt nicht kannte). Sie sind sich ähnlich genug, aber nicht zu ähnlich, dass man von Plagiatsabsichten oder Trittbrettfahrerei ausgehen müsste. Darum habe ich mich auch gerne einem weiteren Koontz-Buch zugewandt, nämlich Watchers. Mehr dazu demnächst.

PS: Wer gern wissen möchte, was es mit dem Titel auf sich hat, der muss das Buch (oder die Fussnoten) lesen.

Fussnoten

1) Siehe auch Ein Blogpost, drei Hörbuchbesprechungen, Was wäre wenn im grossen Stil, Jahrzehntlich grüsst das Murmeltier, Back to the Future für Erwachsene und natürlich auch Zauberer sind Hacker der Realität.

2) Das ist, wen wundert es, der besagte Fremde. Er heisst Stefan Krieger, ist ein Deutscher und – Achtung, Spoiler-Alarm! – er ist ein Deutscher im Dienst der Nationalsozialisten. Die braunen Gesellen haben eine Möglichkeit gefunden, in die Zukunft zu reisen. Diese Zeitmaschine erklärt auch den englischen Titel. Sie löst am Zielort ein Gewitter aus heiterem Himmel aus und bringt Blitz («Lightning») und Donner. Krieger ist in der Zukunft als Aufklärer unterwegs. Er testet die Zeitmaschine und beschafft Informationen über den zweiten Weltkrieg. Welche Informationen könnten Hitler helfen, die Niederlage abzuwenden und in einen Sieg umzumünzen? Bei dieser Mission lernt Krieger Laura kennen. Sie sitzt im Rollstuhl, weil der betrunkene Arzt irreversible Schäden bei der Geburt nicht verhindert hat. Krieger verliebt sich in sie und beschliesst, als Schutzengel Schaden von ihr abzuwenden. Er kommt nicht immer rechtzeitig, doch er ermöglicht ihr ein Leben ohne Behinderung, dafür mit dem Mann und Kind, die Laura in ihrem «richtigen» Leben nie kennen gelernt hat.

Krieger hat innerlich der Nazi-Ideologie abgeschworen. Während er Lauras private Biografie zum besseren wendet, sucht sucht er nach einem Weg, die Zeitreisen der Nazis zu verhindern, das Forschungsinstitut in die Luft zu jagen und dafür zu sorgen, dass die Geschichte der Menschheit so bleibt, wie sie ist – ohne Triumph des dritten Reichs. Der Verrat Kriegers bleibt nicht unentdeckt. Heinrich Kokoschka ist sein grosser Gegenspieler, den es zu besiegen gilt – und den er auch besiegt.

Im Lauf der Geschichte seift Krieger nicht nur Adolf Hitler ein, sondern besucht auch Winston Churchill. Bei dem lässt er ein unbedachtes Wort über die Sowjetunion fallen. Das führt dazu, dass England gewarnt ist und der Aufstieg der Kommunisten zu verhindern weiss. So bleibt der Menschheit nicht nur die andauernde Herrschaft der Nazis erspart, sondern auch der Kalte Krieg.

3) Dran denken: Es ist eine Geschichte über Zeitreisen!

4) King, trotz allem!

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