Die Illusion von echtem Film

Die VSCO-App versieht Smartphone-Fotos mit Filtern. Allerdings nicht von der effekthascherischen Sorte, die man von Instagram her kennt, sondern mit Simulationen von analog belichtetem Material.

Kevin hat im zweiten Teil unseres digitalen Realitätsabgleichs (wie der digitale Jahresrückblick bei Radio Stadtfilter aus unerfindlichen Gründen heisst), die Vsco-Filter vorgestellt (hier schreibt er auch in seinem Blog darüber). Von denen hatte ich natürlich schon gehört. Schliesslich kommt man in der Foto-Postproduktion auf dem professionellen Niveau längst nicht mehr um sie herum. Die Filterpakete geben den digitalen Bildern eine bestimmte Anmutung – einfach deutlich gezielter, als das im Tummelfeld der Laien-Knipserei der Fall ist.

Wie eine alte Postkarte: Blick über Nürnberg, mit dem F2-Preset verziert¹.

Die Vsco-Filter – das Kürzel steht für Visual supply company – machen nicht einfach irgend etwas mit den Fotos, damit die irgendwie «besser» oder «prägnanten» wirken, so wie das die typischen Filter tun, die wir mit Instagram oder Hipstamatic lieben, hassen oder wenigstens benutzen gelernt haben, und die wir heute in jeder App von Facebook über Twitter bis hin zur Standard-Foto-App in iOS vorfinden. Die Filter versehen die Aufnahmen mit dem visuellen Profil von Analogfilmen. Kodak, Fuji und Ilford sind hauptsächlich vertreten, ebenso wie bekannte Entwicklungsprozesse wie Push und Pull oder die Cross-Entwicklung.

Links: Die Liste mit den Bearbeitungsschritten, jederzeit änderbar. Rechts: Die üblichen Sharing- und Exportmöglichkeiten.

Das ist nicht einfach nur eine Spielerei. Die optischen Eigenschaften des Filmmaterials haben unsere Sehgewohnheiten stärker geprägt, als wir es uns bewusst sind. Viele von uns können ältere Fotos und Filme zumindest auf fünf oder zehn Jahre genau datieren.

Da helfen uns natürlich die auf den Bildern zu sehenden Kleider, Frisuren, Möbel, Autos und Architektur. Aber es ist eben auch das Filmmaterial selbst, das uns deutliche Hinweise liefert. Das muss dann noch nicht einmal der Sepia-Look oder die verblichenen Farmen sein, die uns unmissverständlich zu verstehen geben, dass das Bild ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Das geht viel genauer, weil jede Ära ihre typischen Farb- und Schwarzweissfilme hatte, und wir auf deren Merkmale konditioniert sind – zumindest die von uns, die die fragliche Ära noch selbst erlebt haben.

Die Empfindungen der Betrachter steuern

Man kann mit einer bestimmten Entwicklung seiner Fotos die Empfindungen der Betrachter in eine bestimmte Richtung lenken und vor allem nostalgische Gefühle evozieren. Oder seine Bilder den Eindruck von Zeitlosigkeit erwecken lassen. Die Visco-Filme sind in die sechs Kategorien moderne Filme, klassische Filme, Instand-Filme, Diafilme, archetypische Filme und Filme für die alternative Entwicklung eingeteilt. Die Effekte werden entweder als Camera-Raw-Filter in Photoshop oder aber als Entwicklungseinstellung in Lightroom benutzt. Die Preise von 119 US-Dollar pro Paket lassen keinen Zweifel daran, dass hier ein Pro-Publikum angesprochen werden soll. Aber mit den Apps für iPhone und Android gibt es auch eine kostengünstige Einstiegsmethode für Amateure wie dich und mich.

Winterthur im trüben Herbstlicht – da kann kein Filter der Welt etwas verbessern.

Die VscoCam-App ist nicht nur Kamera und Bildbearbeitung, sondern auch kuratierte Plattform für Fotografien, die ihre Bilder zur Schau stellen möchten. Bei einem ersten Augenschein fand ich die Fotos qualitativ einwandfrei, aber nicht überragend – da ist mir das anarchistische Durcheinander aus Foodporn-Bildern und den überzüchteten Lofi-Bildspielereien in Instagram irgendwie lieber als die geleckt-vornehmen Showcases im Vsco grid. Im Journal kann man (dennoch) seine eigenen Bilder veröffentlichen.

Unter Library bearbeitet man vorhandene Aufnahmen oder knipst über die Smartphone-Kamera direkt mit Live-Filter-Vorschau neue Bilder. Das funktioniert, wie man es aus Instagram kennt: Man weist einen Filter zu und stellt die Stärke ein, mit der er zugewiesen wird. Dann editiert, falls man will, das Bild noch weiter: Helligkeit, Kontrast, Bildlage, Beschnitt, Schärfe und Sättigung, Farbtemperatur, Vignette ein. Als besondere Bildbearbeitungsfunktionen gibt es Highlight Save, die versucht, die Spitzlichter vor dem Ausbrennen zu bewahren. Das Pendant, Shadow Save, ist ebenfalls vorhanden. Es behält die Zeichnung in den dunklen Bereichen so gut als möglich bei.

Schnell einen blauen Himmel

Tint gibt dem Bild einen Farbstich, Skin Tone optimiert bei Portraits die Hautfarbe des Sujets. Mit Grain simuliert man ein analoges Bildkorn – was bekanntlich bei technisch nicht so ganz einwandfreien Bildern eine gute Methode darstellt, die Mankos zu verstecken. Fade macht die Bilder, wie das englische Wort auch auf Deutsch ziemlich schön ausdrückt, etwas fade, indem es die die Farben ausbleichen lässt. Hübsch auch die beiden Funktionen Shadows Tint und Highlight Tint, mit denen man den Schatten bzw. den Spitzlichtern einen Farbstich verpasst. Damit lassen sich Fotos in eine expressionistische Richtung entwickeln. Oder auch auf «plumpe» Weise verbessern: So gibt ein hellblaues Spitzlicht jedem blassen Himmel seine Farbe zurück. Praktisch: Eine Liste zeigt die angewandten Bearbeitungsschritte und erlaubt es, diese jederzeit zu entfernen oder zu modifizieren. Man kann mit ViscoCam am Smartphone auch eine simple Art von nondestruktivem Editing betreiben.

Die mitgelieferten «Film»-Pakete stimmen leider nicht mit denen für Lightroom und Photoshop überein: Die A-Filter stehen für Analog, B für Schwarzweiss (Black & White), C für lebhafte Farben (vibrant colors), F für Mellow, G für Portraits, M für Stimmung (mood), P für Sofortbild, T für moody und X für ausgebleichtes Schwarzweiss. Über den Shop können als In-App-Kauf weitere Module erworben werden, wobei sich die Preise zwischen gratis, 1 Franken, 3 Franken bis zu 7 Franken bewegen. Das teuerste Paket ist die Limited Edition Collection mit einem Sammelsurium an Entwicklungseinstellungen über alle erwähnten Buchstaben.

Fazit: Die VscoCam-App stellt brauchbare Entwicklungseinstellungen zur Verfügung, die Abwechslung zum Instagram-Einerlei und zu anderen gelungenen Kamera-Apps wie Camera+ oder Snapseed. Schade allerdings, dass es die Simulation der analogen Filmtypen mit der App nicht möglich ist. Wahrscheinlich soll eine Kannibalisierung der Desktop-Produkte verhindert werden. Bei mir wäre es aber wahrscheinlich so, dass eine gute Simulation «meines» alten Agfachrome oder Agfacolor mich dazu bringen könnte, das passende Lightroom-Preset zu erwerben…

Die Kaiserburg Nürnberg, mit dem M5-Preset bearbeitet (das leichte Doppelbild rührt von einer nicht optimalen HDR-Überblendung her).

Fussnoten

1) Den Horizont hätte man in der App auch noch geraderücken können, wenn man gewollt hätte.

2 Kommentare zu «Die Illusion von echtem Film»

  1. kein Blog für “Digital”?
    dass nsfw fertig ist ist mir egal. War ja eh nicht mehr gut. Holgi soll wieder Ferngespräche machen.

    und ich sag nur: Sanft und Sorgfälltig…

  2. Simohn hat recht – die Kommentarfunktion fürs Digitalmagazin von Stadtfilter ist mehr als überfällig. Die neue Homepage ist schon seit mehreren Jahren im Gespräch. 😉

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