Den Musikwald durchstreifen

Wie findet man gute Musik? Die Algorithmen der Streaming­dienste suchen in ihrem Katalog anhand der Lieblings-Bands und -song nach weiteren womög­lich genehmen Songs. Discovr Music ist eine weitere Mö­6lich­keit, um den Horizont zu erwei­tern.

Je mehr gute Musik man in seiner Mediathek liegen hat, desto stärker wird der Gedanke, dass es da draussen noch unzählige Songs geben muss, die man noch nicht entdeckt hat. Mir geht es jedenfalls so: Jede musikalische Offenbarung verstärkt den Hunger auf Mehr.

Wer ist in der Musiklandschaft mit wem verwandt?

Spotify versucht, mit der Radio-Funktion diesen Hunger zu stillen (und damit auch wiederum anzufachen). Sie stellt automatisch eine Wiedergabeliste zusammen. Diese Tipps sind meist nicht völlig verkehrt. Andererseits auch nicht völlig treffend – denn Geschmack lässt sich nach wie vor nur sehr schlecht in Algorithmen fassen. Die statistischen Übereinstimmungen zwischen den Musiksammlungen von Leuten mit ähnlichen Vorlieben ergeben zwar durchaus Erkenntnisse, aber die sind halt nur oberflächlicher Natur. Andererseits – wie soll ein Vorschlagssystem denn sonst funktionieren, wenn selbst ich daran scheitere, meinen Musikgeschmack in Worte zu fassen?

Konsternierung und Ratlosigkeit

Es kommt nämlich vor, dass Leute ob meiner Mediathek konsterniert den Kopf schütteln und mich entsetzt fragen, wo bei diesem wirren Sammelsurium der rote Faden verlaufen könnte. Meine Sammlung erstreckt sich quer über die letzten 70 Jahre und über Gernes von Indie und Alternative über Jazz, Pop, Rock, Punk, Heavy Metal bis hin zu Chansons, Country, Klassik und Weltmusik. Und, Herrgott noch eins, sogar ein paar Schlager sind in meinem iTunes vorhanden. Einige Schwerpunkte sind bei den Singer-Songwritern zu finden, und ich höre gern Folk-Musik aus allen Ecken der Erde (nur die Folk-Musik aus meinem Heimatland kann ich wirklich nicht ausstehen).

Ich bevorzuge sicherlich handgemachte Musik, doch diese Regel wird auch durch Ausnahmen wie Yello oder Kraftwerk bestätigt. Oder durch Daft Punk, Deichkind oder Gotan Project. Ich bin tendenziell auf der alternativen Seite zu Hause, abgesehen von einigem Mainstream-Shit, auf den ich doch nicht verzichten würde – zum Beispiel Dire Straits, Falco, Jean-Jacques Goldman oder Katie Melua. Hip-Hop kann ich auf den Tod nicht ausstehen, doch die Black Eyed Peas oder Manau gefallen mir ganz ausgezeichnet. Es gibt in meiner Mediathek einen wilden Sprachmix, von Englisch über Deutsch, mit viel Französisch bis hin zu Japanisch, Finnisch, Isländisch, Katalanisch, und weiss der Geier was sonst noch.

Ein Opfer der Multioptionsgesellschaft

Mit anderen Worten: Ich habe selbst keine Ahnung, was mir eigentlich gefällt. Ich bin ein tragisches Opfer der Multioptionsgesellschaft, und wahrscheinlich auch deswegen Journalist geworden, weil man da irgendwie auf allen Hochzeiten tanzen kann.

Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass alle diese Titel, die mir gefallen, in ihrer Verschiedenheit einen gemeinsamen Kern haben. Ich bilde mir manchmal ein, es könnte eine Mischung aus Ehrlichkeit, Leidenschaft und Enthusiasmus sein. Das heisst: Die Musiker, die ich mag, machen ihr Ding, weil sie davon überzeugt sind, und nicht des Geldes wegen. Das heisst, dass ich mir selbst ein Sensorium für das Gute und Wahre zuerkenne.

Selbst wenn ich das habe, dürfte auch das nur auf die Hälfte meiner Musiksammlung zutreffen. Die andere Hälfte ist, so peinlich das jetzt auch sein mag, schlichter Kitsch. Ich bin, so schwant es mir nach dreissig Jahren als Musikkonsument, auch wahnsinnig anfällig für Schmalz, Schmachtfetzen und Bombast. Wenn sich dieser Aspekt in einen Algorithmus fassen lässt, dann hat dieser Algorithmus gute Chancen, meinen Geschmack schon mal grob umreissen zu können.

Doch so weit sind wir noch nicht. Die Schweizer Musiksuchmaschine Museeka, die ich im Juni 2011 vorgestellt hatte und die mit dem Versprechen angetreten war, Musik anhand ihrer Eigenschaften zu finden und vorzuschlagen, ist gescheitert.

Aus dem radialen Baum wird ein Wald

Ich probiere es im Moment mit Discovr Music von Filter Squad (fünf Franken) auf dem iPad. Die App nimmt den Namen eines Musikers oder einer Band entgegen und zeigt verwandte Künstler als «radialen Baum» an. Die Darstellungsform wurde von Tamás Nepusz entwickelt, der zuvor für Last.fm geforscht hatte. Die Optik gefällt mir gut und auch die Vorschläge sind einigermassen brauchbar.

Das weitläufigere Verwandtschaftsgeflecht erkunden.

Tippt man einen Künstler einmal kurz an, öffnen sich wiederum die zu diesem gehörenden Interpreten. Man kann so auch das weitläufigere Verwandtschaftsgeflecht erkunden und mit visueller Unterstützung auf Streifzug gehen. Aus dem radialen Baum wird quasi ein ganzer Wald. Per Kneifbewegung verkleinert und vergrössert man die Darstellung und mit einer Schüttelbewegung räumt man wieder auf. Wie Discovr die Verschwandschaftsbeziehungen ermittelt, habe ich im Detail nicht herausgefunden. Ich nehme nicht an, dass sie den Geist von 1000 verstorbenen Musikkritikern in einen Server hineingekriegt haben. Wichtig scheint mir die geografische Verortung zu sein – so erhält man zu Züri West beispielsweise, Mani Matter, Stiller Has und Patent Ochsner – aber leider auch Plüsch und Gölä. Discovr verrät einem somit nichts über seinen eigenen Musikgeschmack, das man nicht schon gewusst hätte. Aber die App hilft einem, ein bestimmtes Genre oder eine musikalische Region auszuloten.

Rudimentäre Anbindung an Spotify

Wenn man in der Darstellung einen Künstler doppelt antippt, landet man auf der Künstler-Website unter discovr.info, wo man auch Youtube-Videos und Besprechungen von pitchfork.com findet. Tippt man länger auf einen Künstler, erscheint ein Popup-Menü. Es spielt über Play top songs die beliebtesten Tracks in 30-Sekunden-Schnipseln ab. Über Play similar Artists kann man sich auch die verwandten Künstler in die Playlist legen – leider aber auch nur in kurzen Ausschnitten. Immerhin: Über den Befehl Show in Spotify reicht man einen Künstler an die Streaming-App weiter und kann sich dort die ganzen Songs anhören. Besser wäre allerdings, wenn Spotify den Wiedergabe-Part gleich ganz übernehmen könnte, sodass man seine Discovr-Playlists auch in der App des Streaming-Dienstes zur Verfügung hätte.

Durch eine unscheinbare Pfeiltaste in der rechten oberen Ecke blendet man ein Menü ein, über das man den internen Player steuert, die Suchfunktion und die Hilfe aufruft. Analog erscheint über den Button links unten ein Menü, das entweder die eigenen Favoriten, die Vorschläge von Discovr und die Rubrik Trending anzeigt. In der findet man den üblichen Kram von Beyoncé über Skakira bis zu Miley Cyrus – kann und sollte man somit getrost ignorieren.

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